Garish
WENN DIR DAS MEINE LIEBE NICHT BEWEIST
“Das ist kein Wasserfall, das ist verchromt, das soll eine blutende Nase darstellen. Das daneben erinnert an einen ausgerenkten Fuß, und das da drüben ist einfach ein Herz.” Die Frau deutet mit einer ausschweifenden Geste runter auf die beeindruckenden, riesigen Korkformationen auf der Oberfläche des Sees. “Das sind alles Symbole aus ihrem fünften Album, “Wenn Dir Das Meine Liebe Nicht Beweist”, ihrem besten Album. Also, es war jedenfalls damals bis zu dem Zeitpunkt als sie’s herausgebracht haben das beste, ambitionierteste, was sie jemals gemacht haben.
Seltsam, dass ich mich ausgerechnet daran erinnern kann.” Der Bub, von dem sie vermutet, dass er ihr Sohn sein könnte, sieht sie mit einem leeren Gesichtsausdruck an. “Die Garish waren dafür verantwortlich, Garish, eine große, extrem fortgeschrittene Zivilisation, eine Republik, oder war’s doch ein Sultanat – oder eine Band? – aus der klassischen Postmoderne, also jedenfalls noch lange bevor 2255.”
Sie zurrt ihren Umhängewollsack mit den Konserven nochmal fest, als beide behutsam den Hang entlang des verwilderten Pfads herab schreiten. “Diese Inseln auf dem See sollen Denkmäler der Liebe sein, so ähnlich wie das Taj Mahal, kannst du dich erinnern?” “Du meinst diese Säulenruine, bei der wir letzten Monat waren?“ Ein Konterfei aus Halogenleuchtstäben flimmert noch fahl in einer Felsnische. “Schau, das ist der Thomas Pronai alias Kantine, der hat das Album produziert!” “War der sowas wie der König von Garish?” “Nein, streng genommen war er gar nicht von Garish, aber sie haben ihm irgendwann mal die Ehrenbürgerschaft angeboten, weil er bei allen ihren Plattenaufnahmen dabei war und ihnen speziell bei “Wenn Dir Das Meine Liebe Nicht Beweist” knifflige kreative Entscheidungen abgenommen hat.” “Gibt es denn auch Bilder von den Garish selbst? Wer hat bei denen das Sagen gehabt?”
“Das waren der Thomas Jarmer, der gesungen und Akkordeon gespielt und die Texte geschrieben hat, Christoph Jarmer und Julian Schneeberger an der Gitarre, Kurt Grath am Bass und der Markus Perner an den Drums. Darüber hinaus haben die die Verwaltung untereinander so gegliedert, dass jeder von ihnen ein eigenes Ministeriumsportfolio inne gehabt hat, einer war der Finanzminister, der andere Infrastrukturminister, noch ein anderer war der Scheißminister (gelegentlich nicht amtsführend)…” “Was?” “Ja, die fünfte LP von Garish war die erste, auf der geflucht worden ist! Jedenfalls waren die alle so bescheiden, ich weiß nicht, ob die von sich selbst irgendwelche Kunstwerke anfertigen lassen haben…”
Am Rand der Karstsenke angekommen fällt ihr Blick auf fünf aneinander gebaute antike silberne Telefonzellen. “Ah, sie stehen tatsächlich noch da!” Das doppelte Drücken der Raute-Taste gibt die als für die Nachwelt erhaltenswert erkorenen Audio-Logbuch-Einträge von Frontmann Thomas Jarmer zur Periode rund um “Wenn Dir Das Meine Liebe Nicht Beweist” preis: “Der schonungslose Umgang miteinander ist sicherlich ein Zeichen der Zeit”, beginnen seine Aufzeichnungen. “Da sind sie es wohl leid geworden, den ganzen Laden miteinander zu schmeißen, wie?”, entfährt es dem Jungen, der mit der Frau mithört. “Im Gegenteil”, antwortet sie, “damals ist alles erst richtig losgegangen! Die Mitglieder von Garish haben im Umgang miteinander die längste Zeit strenge protokollarische Regeln walten lassen, erst bei ihrem fünften Album haben sie dann gemerkt, wieviel mehr ihnen ihre Musik geben kann, als sie begonnen haben, einander ein bisschen lockerer, wenn nicht sogar frecher, zu behandeln!” “Vieles von dem, was auf dieser Platte ist”, fährt Jarmers Stimme fort, “hätten wir uns früher nicht zugetraut, wegen der ständigen Unklarheit, was sich die Band eigentlich erlauben darf. Soviel Platz für Zufälle und Experimente wie diesmal haben wir noch nie zugelassen.” “Du musst wissen, dass die Rohstoffkrise Garish natürlich genauso getroffen hat wie alle anderen auch, und da sind sie erst draufgekommen, um wieviel Energie sie beim gemeinsamen Komponieren nochmal freisetzen können!”
“Auch das simultane Arbeiten miteinander an neuen Stücken wäre auf vergangenen Garish-Platten noch völlig undenkbar gewesen. Jetzt aber waren wir soweit, die rigorose Konzeptionierung etwas aufzuweichen, und eben im Einklang miteinander herumzuprobieren, bis wir gemeinsam auf etwas gestoßen sind, was uns gefallen hat, wie auf “Den Idioten Zum Beweis” zum Beispiel.” “Aber ist diese Platte denn jetzt wirklich so toll?”
“Diese Platte ist ganz, ganz großartig, die Stimmungspalette ist so unangestrengt breit gefächert, wie man das über eine Spanne von elf Liedern sonst selten zu hören bekommt, die Arrangements sind makellos filigran, und die Texte sind, wenngleich doch auch immer noch sehr poetisch, gleichzeitig so gewitzt und gelenkig und amüsant wie noch nie. Ich hab das ganze Ding nach einmal Anhören schon nicht mehr aus dem Kopf bekommen, und nach dem Zweiten Mal konnt ich mitsingen, und das war zur Abwechslung mal kein penetrantes, sondern ein angenehmes Gefühl.” 40 Minuten vergehen im Flug. “Uns kommt es darauf an, Leuten Momente zuteil werden zu lassen, über deren Vergänglichkeit sie sich – obwohl man weiß, dass sich solche Momente über das erneute Abspielen der Musik später wieder in Erinnerung rufen lassen – im Hier und Jetzt ganz und gar im Klaren sind.” “Komm, wir müssen gehen, lass uns weiterziehen, bevor die Nacht hereinbricht, an diesen mysteriösen Ort dessen Name auf dem Getränkeautomat vermerkt ist auf diesem komischen Photo, auf dem du noch keine Sommersprossen gehabt hast….”
Irgendwo in den östlichen Bundesländern wacht ein Zirkusakrobat mitten in der Nacht aus einem Fiebertraum auf. Musik hat die einzigartige Gabe, uns von unseren inneren Zwängen zu befreien. Er macht sich eine Tasse Tee.
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