Interview mit Willy Puchner
Kulturgericht hat mit dem Künstler, Fotograf, Zeichner und Autor Willy Puchner ein Interview geführt. Natürlich erfahren wir in diesem Dialog auch Einiges vom Kater Tiger.
Du lebst ja nun am Land, hat sich dein Alltag verändert?
Seit fast 300 Tagen lebe ich zurückgezogen in meinem Bauernhaus in Oberschützen, einem kleinen Dorf im südlichen Burgenland. Ich bin aufs Land gezogen, nachdem die Pandemie begonnen hatte und die Ausgangsbeschränkungen verschärft wurden. Immer weniger durften die Menschen ihre Wohnungen verlassen, mussten um acht Uhr abends zu Hause sein. Die Straßen der Großstadt wurden immer leerer und bei meinen Spaziergängen, die ich machte, fühlte ich, dass ein großes Gespenst die Häuser und den Himmel einhüllte, ein nebelhafter Dämon, als würde er mich vor etwas warnen. Es löste Angst aus, die besonders in der Nacht aktiv war, und daher gab es Tage, da schlief ich nicht allein im Bett, sondern mit einem Gespenst, das ich am Morgen abschütteln musste.
Jetzt, wo ich schon fast dreihundert Tage auf dem Land lebe, ist dieses Gespenst verschwunden. Jetzt gehe ich hinaus, die Wege entlang und zähle meine Schritte. Zurzeit lebe ich ohne Hoffnung, dass ich irgendwann wieder einmal die Welt bereisen werde, ich habe mich vorerst in meiner kleinen Welt eingerichtet. Jetzt lasse ich die Tage verstreichen und überlege, an wen ich heute einen Brief schreiben werde.
Wie sieht ein „normaler“ Tag bei dir aus?
Ich habe meinen Tagesablauf strukturiert.
So muss ich jeden Tag mindestens 7000 Schritte gehen, das sind mehr als fünf Kilometer; weiters vier Stockwerke hinaufsteigen, was bei einem ebenerdigen Haus nicht so leicht zu erreichen ist; möchte jeden Tag mit mindestens drei Personen ein kurzes Gespräch führen mit der Erweiterung, dass ich alle vierzehn Tage jemanden anrufen sollte, mit dem ich schon lange oder noch nie gesprochen habe; sammle Einkaufslisten in einer Mappe, die ich mit kleinen Zeichnungen verziere und schon am Vortag überlege ich meist, was am nächsten Tag zu tun ist. Trost geben mir die tägliche Lektüre und vor allem meine Bilder, die ich anfertige. Ich kritzle, zeichne, nähe mit der Nähmaschine und appliziere Fundstücke von meinen Spaziergängen. Dieses kleine Projekt hat den Arbeitstitel: „Die Natur ist meine Göttin.“ Die Liste der finanziellen Möglichkeiten ist die vielleicht schwierigste, weil sie keiner Struktur unterliegt, sondern ein wenig mit dem Zufall operiert, also auch damit, was mir gelegentlich zufällt.
Warum hast du eine Vorliebe für Listen?
Ich liebe Listen, weil sie mich trösten.
Ich führe genaue Aufzeichnungen wie ein Buchhalter, fertige über dieses und jenes Listen an, überprüfe diese täglich und bin zufrieden, eine Art Struktur entwickelt zu haben. Es sind Listen über meine Anwesenheit auf dem Land; über die Schritte tagein tagaus und die damit verbundenen Kilometer; über die täglichen Anrufe bei Freunden oder Bekannten; über Briefe und sonstige Postsendungen, die ich an viele Menschen schicke; fertige Listen über meine neu produzierten Bilder an; sammle Zitate in diversen Notizbüchern aus all dem, was ich lese oder auch höre; schreibe Einkaufslisten; und Listen über all das, was drinnen im Haus oder draußen im Garten zu tun ist. Zu ergänzen wäre noch, dass ich mir immer wieder überlege, wie ich Geld verdienen könnte, auch dafür habe ich eine Liste, die ich einfach Möglichkeiten nenne.
Erzähl uns etwas über deinen Tiger und warum er für dich so besonders ist.
Eines Tages stand vor dem Tor des Bauernhauses ein kleines Kätzchen, eigentlich war es noch ein Baby. Es miaute laut, war schmutzig, verfloht und fast am Verhungern. Es war Liebe auf den ersten Blick. Seitdem beobachte ich den kleinen Tiger, der auch den Namen „Tiger“ hat. Ich versorge und streichle ihn und möchte, dass es ihm gut geht. Er lehrt mich, die Welt anders wahrzunehmen. Er schläft stundenlang oder kann sehr lange beim Fenster hinausschauen, ohne sich viel zu bewegen. Es ist eine spezielle Form der Meditation.
Eigentlich bin ich ein Katzenmensch.
Ich habe ein Buch über meinen Kater Tiger gemacht und mich in seine Fußstapfen begeben und aus dessen Perspektive die Welt erkundet. In dem Buch erzählt der Tiger seine Lebensgeschichte. Er berichtet, wie er von einem Jungen aufgenommen wird, von seinem Katzenalltag, vom Angriff einer fremden Katze, vom Tierarzt und schließlich von seinen Träumen. Es ist ein Buch für Menschen, die Katzen lieben, ihnen nahe stehen und nahe stehen wollen. Es ist eine Geschichte, die berührt. Ich habe versucht, mich in die Rolle des Katers zu versetzen und habe versucht, die Mensch-Tier-Beziehung von der Seite des Tieres zu skizzieren.
Wie entstand die Die Sehnsucht der Pinguine?
Begonnen hat alles recht zufällig. Ein Sonntagsnachmittagsgag, kurzlebig wie eine Eintagsfliege. Mein Studium der Sozialphilosophie hatte ich mit der Diplomarbeit „Über private Fotografie“ vorerst beendet und kurz danach von den Objektemachern ana plus ohne großen Aufwand zwei Pinguine erworben, die nun in meiner Wohnung herumstanden. Genauer betrachtet posierten sie, wie die Knipser, über die ich zwei Jahre lang theoretisiert habe. Eigentlich wußte ich nicht so recht, was ich tun sollte. Ich wußte nur, dass ich reisen und wieder fotografieren wollte. So kam es, dass ich die beiden Pinguine in meiner Phantasie nach draußen projizierte, in ein anderes Ambiente trug und an einem Sonntagnachmittag erstmals mit Freunden herumschleppte. Dass damit ein Projekt begann, ahnte ich erst viel später, erkannte ich erst, als ich anfing, die Pinguine als Projektionsflächen meiner Sehnsucht zu sehen. So standen sie in meiner Vorstellung nicht nur in Wien, sie wurden Bestandteil vieler ferner Bilder, in die ich meine Wünsche legte.
Die Sehnsucht der Pinguine kam langsam zur Welt.
Heute ist das Projekt über verschiedene Zugänge erreichbar. Einer führt über diesen merkwürdigen, melancholischen Vogel, der nicht gerne alleine ist, ein anderer über unsere persönlichen Wünsche und Sehnsüchte, wieder einer über die Faszination des Reisens, des Fernwehs, über die Arbeit auf der Straße, die Ironie, das Tragen, das Lachen – vielleicht, einfach gesagt, über den Versuch einer globalen pinguinischen Umspannung, Ausdruck einer Bewegung, die innehält und durch die fotografische Fixierung als Pose der Sehnsucht erkennbar wird.
Deine Projekte und Fotos mit alten Menschen fand ich sehr berührend. Wie ist die Idee dazu entstanden?
In meinen Fotoprojekten über alte Menschen möchte ich, dass der alte Mensch im Mittelpunkt steht. Angefangen hat es unter anderem auch mit dieser Beobachtung:
Jeder von uns kennt das Bild: Zwei alte Menschen gehen Hand in Hand durch die Stadt. Ich weiß nicht, ob es jeden von uns gleich berührt. Mich berührt es sehr. Wenn diese oder andere alte Menschen dann irgendwo auf einer Parkbank sitzen und einander küssen, sollte das für uns ein selbstverständliches Bild sein.
Ich wünsche mir, dass dieses Anrecht nicht nur jungen Menschen zusteht. Wir wissen, dass das Alter eine Randzone ist. Wir wissen auch, dass unsere Gesellschaft die Tendenz hat, alte Menschen auszuklammern, weil sie von ihrer wirtschaftlichen Kaufkraft nicht mehr interessant sind und unseren Gesellschaftsbetrieb nicht mehr unterstützen. Jung und hübsch regiert die Konsumwelt. Das ist mit ein Grund, warum ich mich mit dieser Thematik beschäftige. Nicht, weil ich ein Tabubrecher bin, sondern weil ich mich gern am Rand der Gesellschaft ansiedle.
Beim Projekt „Liebe im Alter“ war es mir wichtig, dass der Aspekt der Umarmung stärker in den Mittelpunkt rückt. Ich wollte zeigen, wie sich alte Menschen berühren. Erleichternd für dieses Vorhaben war, dass es sich bei meinen Protagonisten um Liebespaare handelte, um Menschen, die sich kennen
lernten, nachdem sie das siebzigste Lebensjahr überschritten hatten. Ich wollte, dass sie nicht in die Kamera blicken. Sie sollten sich mehr oder weniger vergessen, auch mich, den Fotografen, der ihnen bei ihren Umarmungen zusieht. Ich wollte auch, dass sie – die alten Liebespaare – wissen, dass sie mit ihren Bildern etwas transportieren, das für andere Menschen wichtig sein könnte:
Jemand, der alt ist, hat genauso das Recht, einen anderen Menschen zu umarmen.
Was bedeuten Preise und Auszeichnungen für dich? Welchen schätzt du am meisten und warum?
Ich habe verschiedene Preise bekommen, die mich alle sehr gefreut haben. Es ist nicht so, dass ich einen besonders hervorheben möchte. Oft fühle ich mich auch ausgezeichnet, wenn jemand etwas Außergewöhnliches auf sozialen Plattformen schreibt, ein Kommentar, ein Zuruf, eine Ermunterung. All das Lob, das mich begleitet, all die Anerkennung beruhigt mich, heitert mich auf, lässt mich weiterarbeiten.
Welche Projekte planst du für die Zukunft?
Zur Zeit habe ich, wie schon erwähnt, ein kleines Projekt mit dem Titel „Die Natur ist meine Göttin“. Die Landschaften, die mich umgeben, sind Teil meiner Identität. Als Stadtmensch hatte ich den Zugang zur Natur verloren. Ich bin überzeugt, dass die „Natur als meine Göttin“ eine heilende Kraft hat.
Ich habe im Augenblick keine großen Projekte, gönne mir eine Pause ohne Buchprojekt und ohne Ausstellung, was in Zeiten wie diesen auf jeden Fall erleichtert. Ich bin offen für vieles, was auf mich zukommt, mache mir Notizen, sammle Ideen. Vielleicht sollte ich eine neue Liste beginnen, die ich täglich füttere: „Projekte für die Zukunft“.
Vielen Dank für das Interview!
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